Güggsli

von Christa Morgenstein

„Auf Wiedergüggsli!“ „Said si“ und wieder muss ich lachen − wie immer über diese verschmitzte Fröhlichkeit, die aus ihren blauen Augen blitzt. Sehr schön ist es hier und gerne würde ich sie mitnehmen zu einem Spaziergang… Wie würde ich es beschreiben, was ich sehe und entdecke? Denn „Güggsli“ sieht nicht mehr gut: Strahlend helle Sonne – Anfang November – die wärmt. Nur der Wind kann verhindern, den Mantel abzulegen… Diese wundervollen Farbschattierungen von Blau im juwelengleichen See. Weiße Schwäne und schwarze Blesshühner punkten die Wellen. In der Ferne streichen majestätische Segel über den Horizont.

Da! Aufregung bei den Möwen! Irgendwo, irgendwer hat wohl etwas fallen lassen. Ach nein! Einer schwarzen Krähe jagt der Schwarm ihr „Café-Gipfeli“ ab. Nur einer bleibt Sieger. Wer?
Ist noch eine Weile strittig… Dann kehrt wieder Ruhe ein. Die Schwäne titschen mit ihren orangenen Schnäbeln in das Wasser, putzen und plustern ihr Gefieder. Ohh, dieser Himmel, diese Landschaft! Ich bin mir nicht sicher, ob der liebe Gott nicht doch noch am 7. Tag etwas geschaffen hat?

Vielleicht nach einem gemütlichen Frühstück mit Milchkaffee und Gipfeli in bester Sonntagslaune diesen schönen Fleck! Gönnerhaft ist er mit Perspektive, Licht und Panorama umgegangen. Dieser weite Blick in den Hegau mit seinen Vulkanstümpfen und davor die milde, sanfte Landschaft mit der Insel Reichenau und dem Schiener Berg.

Den Möwen wird es langweilig und mit ihrem kreischenden Kraoar versuchen einzelne, den Haufen aufzumischen. Doch nichts kann diesen friedlichen Sonntagnachmittag stören. Mein Blick tropft über die Ufermauer und plötzlich wird das, was ich vorher flüchtig für versunkenes Weidenlaub gehalten habe, zu huschenden, flüchtenden und dann langsam gleitenden schwarzen Schatten von 1000 kleinen Fischchen − nur halbe Finger lang.

Auch lustig, welche bizarren Schatten die Sonne auf den flachen Seegrund projiziert. Es sind die verzerrten Abbilder der als Schiffchen sich vergnügenden Platanenblätter. Herbstlaub-Rumtreiber. Jedes einzelne Schatten-Schiff wird von einer kunstvollen, gleißenden Korona aus Sonnenlicht umhüllt. Dieser helle, gleißende Saum aus Sonnenlicht zeigt den Unterschied an, ob der Gegenstand, den du hier auf dem Seegrund vermutest, wirklich ein realer Gegenstand der Unterwasserwelt ist oder doch nur eine trügerische Gaukelei irgendwelcher Schattenbilder, verführerisch schön. Die Sonne ist so verlockend hier, dass sie sogar die Knospen des alten Kastanienbaumes zum Anschwellen und Aufblühen verführt: feucht und klebrig, glänzend – um ein halbes Jahr vertauscht.

Im Ufersand des zulaufenden Baches ist eine Familie mit ihren Kindern beschäftigt und eine Bank weiter sitzt ein kleiner Knirps in seinem Kinderwagen. Papa und Mama stolz und glücklich in die Sonne blinzelnd. Der Knirps gibt sich lustvoll dem Saugen und Schmecken einer zwischen Zunge und Gaumen wohl zerdrückten aufgeweichten Reiswaffel hin.

Glücklich stehe ich auf und gehe weiter. Einer Eingebung folgend, steuere ich den Arenenberg hinauf. Es war so schön unten am Seeufer, dass ich mir nicht vorstellen kann, noch mehr beschenkt zu werden. Doch weit gefehlt! Hier oben weitet sich der Blick, sodass noch das schneegekrönte Panorama der Alpen hinzukommt.

Als ich mich sattgesehen habe, steige ich ins Auto, um den zweiten Teil der Schicht zu arbeiten. Ich werde „Güggsli“ wiedertreffen und ihr zwischen Abendbrot und Lagerungswechsel von meinem schönen Nachmittag berichten. Hingebungsvoll lauscht „Güggsli“ mit geschlossenen ‚Augen. Sie sieht fast aus wie der Knirps im Kinderwagen, als sie mir zuhört.

Als ich nichts mehr zu erzählen weiß, sagt sie: „Weißt Du was? So schön hab ich schon lange nicht mehr über den See geschaut. Schreib das bitte auf, dann kannst Du es mir noch mal erzählen. Und wer weiß? Vielleicht geht es Dir ja mal wie mir und Du kannst auch nicht mehr gut sehen. Dann brauchst Du jemanden, der Dich an all die schönen Bilder erinnert, die Du im Laufe Deines Lebens gesehen hast! So, und jetzt erzähl mir noch mal: Wie war das mit dem Blau?“

„Güggsli“, Text: Christa Morgenstein, Sprecherin: Sylvia Bautsche