„Dieses Projekt beginnt – wie so viele gute Abenteuer – mit einer Karte.
Diese Karte ist kein Sehnsuchtsobjekt im eigentlichen Sinn. Keine Spuren der Benutztheit sind an ihr ablesbar, keine persönlichen Vermerke, sie verbirgt keine Schätze oder unentdeckten Gebiete. Sie erzählt nicht einmal von der Vergangenheit, nein, die Karte aktualisiert in Echtzeit, sie ist immer gegenwärtig, immer heute. Marinetraffic.com ist eine rein funktionale Karte, die nur digital existiert und die die Standortpositionen beinahe aller Schiffe auf den Weltmeeren übermittelt.
Diese Schiffe breiten sich wie ein atmendes Geflecht auf der Karte aus, verdichten sich in Richtung Küste, vereinzeln sich auf hoher See: Das Wandern dieser GPS-Positionen, es ist ein Tanz, dessen Choreographie uns Landmenschen für gewöhnlich verborgen bleibt.
Die Künstlerin Anna Loog entdeckte diese pralle parallele Welt, als sie reichlich robinsonesk auf Island festsaß. Der Vulkan Eyjafjallajökull atmete Asche und Stille, der Flugverkehr und die Welt verharrten und die Künstlerin kalkulierte das Risiko einer Überfahrt per Schiff zum europäischen Festland im Winter bei einer Windstärke, die Dächer abzudecken im Stande ist. Sie konsultierte die besagte Online-Karte und den sagenumwobenen BBC „Shipping forecast“. Und fand eine Analogie unseres Daseins.
Als imaginäre Gedankenverknüpfungen überführt sie die marinen Interaktionen auf das Zwischenmenschliche. Unsichtbare Routen führen uns Menschen zusammen und wieder auseinander, Strömungen leiten uns, Wirbel und Wellen entzweien uns, Wasserstraßen kreuzen sich und wir fädeln uns ein und scheren wieder aus. Auch wir tanzen und man sieht uns nicht an mit wem. Unser Netzwerk ist nicht wahrnehmbar, nicht nachvollziehbar für die Außenstehenden. Wir driften durch eine Welt, die so volatil ist, wie das Meer.
Jene Schiffe, die sich kurz auf See versammeln zu einem – welch herrliches Wort –Stelldichein, die sich also einstellten aufeinander für einen Moment, die nannte Anna Loog „Relation Ships“, Beziehungsschiffe also.
Und sie lud Menschen ein über eben jene „Beziehungsschiffe“ zu schreiben, über Momente sich kreuzender Lebenswege, und veröffentlichte diese Texte auf einer Website, die nun ihrerseits wie ein Hafen den verschiedensten Menschen in der Unendlichkeit von Leben und Internet einen Ankerpunkt bietet, eine kleine mediale Zusammenkunft, um sich über das Zusammenkommen auszutauschen.“
Vivien Sigmund, Kunsthistorikerin, Januar 2022